»2061«

»Das wäre Stärke vierzig«, bemerkte O’Brien. »Sie können sehen, dass die Zahlen auf dieser Skala bis hundert reichen. Wollen Sie bitte während unserer ganzen Unterhaltung daran denken, dass es in unserer Macht steht, Ihnen in jedem Augenblick und in jedem von mir gewünschten Grad Schmerz zuzufügen. Wenn Sie mir Lügen auftischen oder irgendwelche Ausflüchte zu machen versuchen, oder auch nur sich dümmer stellen, als Sie sind, werden Sie sofort vor Schmerz aufschreien. Haben Sie verstanden?« »Ja«, sagte Winston. (1984, George Orwell)

Sie sind geistesgestört, Luis“ sagte der Richter. „Sie haben einen Fehler im Gehirn. Sie reden sich ein dass Sie Gesetze verstehen, die Sie gar nicht verstehen können. Ich gebe mir Mühe Ihnen zu erläutern, wie viel Sie monatlich bezahlen müssen und Sie kommen mir hier mit Ihrem moralischen Wahn, dass dies alles ungerecht wäre. Ich bin der Richter und was ich entscheide ist immer gerecht. Versuchen Sie das mal in Ihren verwirrten Schädel zu kriegen, das kann doch nicht so schwer sein.“

Ich versuche es ja, aber was Sie sagen kann doch gar nicht sein.“ antworte ich.

Klappe halten und zuhören. Bestreiten Sie etwa, dass Sie diese Frau geheiratet haben und das Kind von Ihnen ist?“

Ich schüttle nur den Kopf.

Na also, schön dass Sie gleich bei der Wahrheit bleiben. Das ist doch schon ein Fortschritt.“

Ich nicke.

Da sich Ihre Frau von ihnen scheiden lässt, sind Sie verpflichtet für ihren Lebensunterhalt und den Ihres Kindes aufzukommen. Das steht so im Gesetz, das wurde demokratisch so beschlossen und Sie wollen doch nicht von mir, einem Richter, verlangen, dass ich gegen das Gesetz verstoße.“

Aber Herr Richter…“ sage ich.

Klappe halten und zuhören. Sie werden verurteilt monatlich 1.800 Euro an Ihre Frau zu überweisen. Das ist der Unterhalt für Ihre Frau und Ihr Kind, den wir auf gesetzlicher Grundlage ausgerechnet haben. Wir wollen doch alle nicht dass die beiden Hunger leiden, nicht? Verstehen Sie das jetzt endlich?“

Ich schüttle wieder nur den Kopf.

Dann sagen Sie mir was daran unverständlich ist“

Aber Herr Richter, ich verdiene doch nur 2.000 Euro im Monat. Wovon soll ich denn leben?“

Luis, Sie sind doch ein freier Mensch, der tun und lassen kann was er will in unserem demokratischen Rechtsstaat, nicht wahr?“ sagt der Richter und wirkt etwas zornig.

Ich nicke wieder nur.

Ich verurteile Sie nicht dazu nur 2.000 Euro im Monat zu verdienen. Das ist voll und ganz Ihre eigene Entscheidung. Als erfahrener Richter kann ich Ihnen nur den Ratschlag geben, 600 Euro mehr im Monat zu verdienen, damit Sie der Allgemeinheit nicht auf der Tasche liegen oder auf der Straße landen. Sie wollen sich Ihr Leben doch nicht schon in jungen Jahren versauen, nicht wahr? Also, strengen Sie sich an, und wenn Sie über 2.600 Euro im Monat verdienen, dann sehen wir uns wieder.“

Ich frage „Wird der Unterhaltsbetrag dann reduziert, wenn ich über 2.600 Euro verdiene?“

Der Richter schlägt sich die Hände vor’s Gesicht und sagt „Ein letzter Ratschlag noch, Luis. Vereinbaren Sie mal einen Termin mit einem Psychologen. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Sie brauchen professionelle Hilfe. Die Verhandlung ist beendet.“

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Haben Sie eine Tageskarte gekauft, Luis? Gerade habe ich mühsam Ihr Scheidungsverfahren beendet und jetzt stehen Sie schon wieder vor mir. Was liegt denn an?“

Ich zucke nur mit den Schultern.

Herr Özgür, ich sehe Sie haben Ihren Übersetzer gleich mitgebracht. Wessen klagen Sie Herrn Luis an?“

Özgür’s Übersetzer erklärt in schwer verständlichem Deutsch dass Luis wiederholt Kommentare im Internet geschrieben hat, die Ausländer diskriminieren. Luis wäre der Meinung, dass Moslems ausgewiesen werden sollen, wenn sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Özgür fühle sich dadurch diskriminiert und verlangt 500 Euro wegen Beleidigung seiner religiösen Gefühle.

Der Richter fragt den Übersetzer woher er denn so gut Deutsch kann. Der Übersetzer „Isch 20 Jahre Schland. Isch 2 Jahre auf Baustelle, lerne Deutsch. Dann isch habe Rücken, dann Reha, dann arbeitslos, jetzt übersetzte Türkisch-Deutsch in Gericht. Allahu Akbar.“

Ja, Gott ist größer, mein Lieber, da haben sie recht. Luis, Mann, was haben Sie sich denn dabei gedacht so einen ausländerfeindlichen rassistischen Kommentar zu schreiben?“

Herr Richter, ich dachte, wenn die arbeitslosen Moslems keine Sozialleistungen mehr bekommen, können wir unsere Steuern und Sozialabgaben senken, damit ich mehr Geld für den Unterhalt meiner Ex-Frau und meines Kindes bezahlen kann.“ sage ich freundlich lächelnd.

Kommen Sie mir bloß nicht so scheinheilig daher, Luis. Sie sehen doch an Herrn Özgür’s Übersetzer, dass jeder Moslem zu einem wertvollen Mitglied unserer Gesellschaft werden kann. Mit ein wenig Hilfe von uns privilegierten Deutschen haben wir das geschafft. Ihre Aussage ist also faktisch falsch und außerdem beleidigend. Ich wiederhole mich ungern, aber Sie sollten wirklich dringend mal zum Psychologen. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht.“

Bitte, Herr Richter“ stammle ich.

Klappe halten und zuhören, Luis. Ich werde mich noch mit den Beisitzern, Herrn Gümül und Frau Schneider-Hofheinze-Mühlberg-Schnarrenhain beraten, aber machen Sie sich mal darauf gefasst 500 Euro an Herrn Özgür zu bezahlen, 300 Euro an den Übersetzer und 200 Euro Gerichtskosten. Dann wird ihnen das unverschämte Grinsen schon bald vergehen. Und seien Sie froh, dass Herr Özgür ihre Kommentare nicht seinen beiden Frauen und 7 Kindern gezeigt hat. Bedanken Sie sich bei ihm, sonst würden aus den 500 Euro ruckzuck fünftausend Euro.“

Ich stehe ganz bedeppert da und sehe wie Herrn Özgür’s Gesicht aufleuchtet als ihm die Sache mit den 5.000 Euro übersetzt wird. Das nächste Mal wird er wahrscheinlich mit Großfamilie anrücken.

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Sagen Sie mal Luis, wohnen Sie hier im Gericht oder warum sehe ich Sie hier fortwährend als Angeklagter?“

Ja, Herr Richter“ sage ich.

Was soll das jetzt wieder bedeuten, erklären Sie sich!“

Ich sage „Ich wohne an der Ecke zwischen dem Gerichtsgebäude und dem Einkaufszentrum, Herr Richter. Da ist ein warmer Abluftschacht und ganz in der Nähe ist der Müllcontainer des Supermarktes.“

Wie kann man sich nur so gehen lassen. Luis, Sie sind ein Faulpelz und Betrüger. Sie haben die letzten 6 Monate keinen Unterhalt bezahlt und mit den Zahlungen für den Özgür Prozess sind Sie auch im Verzug. Was soll nur aus Ihnen werden. Waren Sie inzwischen mal beim Psychologen?“

Nein, Herr Richter“ sage ich.

Warum nicht, raus mit der Sprache ?!“

Neun Monate Wartezeit, Herr Richter. Geschiedenen Frauen und Kriegsflüchtlinge werden beim Psychologen vorgezogen. Dafür kann ich doch nichts.“

Ja, Luis, wer zu spät kommt den bestraft das Leben.“ grunzt der Richter. „Der deutsche Staat braucht Sie, Luis, und Sie verweigern sich. Vor 45 Jahren sagte unsere eiserne Kanzlerin dass wir das schaffen und ich sage Ihnen hier nochmals : Wir schaffen das. Wir müssen unsere neuen Mitbürger integrieren und Sie sind verpflichtet Ihre Frau und Ihr Kind zu finanzieren. Anstatt sich anzustrengen und zu arbeiten, hängen Sie auf einem Abluftschacht herum und faulenzen. Sie zahlen keine Steuern oder Sozialabgaben, Sie warten wohl darauf dass ihr Kind verhungert und ereifern sich im Internet mit sexistischen und rassistischen Kommentaren. Damit ist jetzt Schluss. Sie werden nun Disziplin und Gehorsam kennenlernen. Ein Jahr in der Justizvollzugsanstalt wird Sie eines besseren belehren.“

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Ahmed, hast Du mal ‘ne Kippe?“ frage ich.

Hast Du Geld, Du Opfaaah ?“ fragt Ahmed.

Leider nichts, Ahmed. Ich hab gar kein Geld mehr, nur Schulden.“

Luis Altaaah, Du Weißbrot, ohne Geld nix Kippen. Du bist so dumm wie alle Deutsche hier in Knast.“

Wie soll ich denn Geld verdienen hier?“

Gehst Du zu Bubba. Du finden in Dusche. Is schlechte Moslem und hat große Schwanz, aber hat Geld.“

Das ist ja ekelhaft. Kannst Du mir nicht was leihen?“

Bubba ist einzige Geldverleiher hier. Fragst Du. Ich nur verkaufe Zigarette.“

Oh Gott, oh Gott, ich nehm mir den Strick.“

Strick geb ich Dir für 50 Euro, Luis. Hast Du Geld, Du Opfaaah?“

»Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt – immer und immer wieder.«

Er verstummte, so als erwarte er, dass Winston etwas sagen würde. Winston versuchte sich in die Oberfläche seines Streckbettes zu verkriechen. Er brachte kein Wort hervor. O’Brien fuhr fort: »Und vergessen Sie nicht, dass das für immer gilt. Das Gesicht zum Treten wird immer da sein. Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft, wird es immer geben, so dass er immer wieder besiegt und gedemütigt werden kann.«

(1984, George Orwell)

 

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